L’immensità – Meine fantastische Mutter (2024)

Inhalt / Kritik

Materiell geht es der Familie Borghetti blendend. Gerade ist man in ein großzügiges, wunderschönes neues Apartment mit Blick über Rom gezogen, die Ferien verbringt man im luxuriösen Anwesen der Großmutter am Meer. Aber die Ehe zwischen Clara (Penélope Cruz) und Felice (Vincenzo Amato) ist längst in die Brüche gegangen. Lebte man nicht im Italien der 1970er, hätten sich die beiden längst getrennt. Was bleibt, ist ein brüchiges Scheinbild, unter dem vor allem Clara und die drei Kinder leiden. Die zwölfjährige Adriana (Luana Giuliani), genannt Adri, würde am liebsten Andrea heißen, was in Italien ein Männername ist. Diana (Maria Chiara Goretti), die Jüngste, spielt lieber mit ihrem Essen als satt zu werden. Und Gino (Patrizio Francioni), der dafür umso mehr isst, drückt seinen stillen Protest auf die wohl drastischste Weise aus. Wie es vor allem Clara und ihre älteste Tochter dennoch mit Fantasie, innerer Kraft und Widerspruchsgeist durch einen schwierigen Sommer schaffen, erzählt Regisseur Emanuele Crialese mit eben so viel Poesie wie Aufbruchsstimmung.

Magie einer Glitzerwelt

Ein Flachdach mit vielen Antennen. Adri, mit weinroter Lederjacke und Jungsfrisur, läuft von einer zur anderen, verbindet sie mit Schnüren. Dann, als alles vernetzt ist, streckt sie die Arme gen Himmel, Handflächen geöffnet nach oben. „Schickt mir ein Zeichen“, fleht sie. Und dann, in einem winzigen Moment, scheint die Kamera das Mädchen tatsächlich schweben zu lassen. Aber das ist nur eine optische Täuschung, die Fantasie lässt den „Tomboy“, der sich als Abkömmling einer anderen Galaxie fühlt, für dieses Mal im Stich. Dabei kommt die Rettung tatsächlich aus dem Äther, der die elektromagnetischen Wellen der Fernsehsender in Schwarz-Weiß auf den heimischen Bildschirm zaubert. Wenn die wilden Choreografien von Adriano Celentano und Raffaella Carrà ausgestrahlt werden, hängen Clara und Adri mit gebannten, wie magisch angezogenen Blicken an der Glitzerwelt des Pop. Hier fühlen sie sich verstanden in ihrem Anderssein, Adri in ihrer Geschlechtsverwirrung und die aus Spanien stammende Mutter in ihrer Fremdheit gegenüber der steifen italienischen Oberschicht. Die wilden Tänze, die sie und die Kleinen dann zuweilen selbst aufführen, zählen zu den glücklichsten Momenten ihres Alltags.

Keine Frage: Diese Mutter ist anders als die anderen. Sie ist fantastisch im Sinne von wundervoll beschützend, aber auch in Sinne von fantasievoll, rebellisch und unkonventionell. Und Regisseur Emanuele Crialese (Golden Door, 2006, Terraferma, 2011) setzt ihr ein Denkmal in den autobiografischen Erinnerungen, die den episodenhaft anmutenden Film im Wesentlichen ausmachen. Es ist ein vielschichtiger Rückblick: schonungslos, was die realen Verhältnisse und Tragödien angeht, aber auch im klaren Bewusstsein, dass Erinnerungen vollgesogen sind von Subjektivität. Verklärung kann man das nicht nennen, aber das Ausschöpfen aller Möglichkeiten, in denen sich Realität verdichtet zu (Film)Kunst. Ein kleines Beispiel: Wenn wir aus Adris Perspektive auf ihre Mutter schauen, dann geschieht das in verliebten Detailaufnahmen: ihre Wimpern, ihr Mund, ihre Ohren. Das Mosaik setzt eine Göttin zusammen. Trotzdem sagt die Tochter einmal: „Hör‘ auf, so schön zu sein“. Adri weiß, dass sich ihre Mutter nur aus zwei Gründen schminkt: weil sie ausgeht, was sie zuletzt immer weniger tut. Oder weil sie geweint hat. Beides stört das innige, fast symbiotische Mutter-Tochter-Verhältnis, das keineswegs problematisiert wird, sondern beiden beim Überleben hilft: ein Rettungsring für zwei Gäste aus fremden Milchstraßen.

Alles im Fluss

Übergang ist ein Thema, aber Emanuele Crialese legt mit Recht Wert darauf, keinen Themenfilm gedreht zu haben. Es ist nämlich vieles im Fluss, nicht nur Adris Geschlechtsidentität. Zum Beispiel die Frauenrolle: Die Mutter, die sich wie eine Gefangene im goldenen Käfig fühlt, hat den traditionell-autoritären Erziehungsstil längst hinter sich gelassen. Sie verkörpert Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung, aber eine Scheidung gegen den Willen des Mannes wagt sie trotzdem (noch) nicht. Im Übergang ist auch das Italien der 1970er, auch wenn die Studenten- und Arbeiterproteste keinen expliziten Eingang in den Film finden. Aber sie schwingen im Hintergrund mit, zeigen sich in den Veränderungen der Popkultur, die wilder und exaltierter wird, teils auch androgyner.

„In jedem Ding ist immer noch etwas anderes verborgen“, lernt Adri im Biologieunterricht. Der Satz ist auch so etwas wie das ästhetische Programm des Films. Er feiert die Zweideutigkeit, das Verwirrspiel von Sein und Schein, die Licht- und Schattenseiten des Lebens mit einem zutiefst poetischen Blick. Auch das Schauspiel von Penélope Cruz und ihrer Filmtochter Luana Giuliani folgt diesem Muster. Innere Kraft und Verletzlichkeit liegen bei beiden eng beieinander, begleitet von einem beeindruckenden Spektrum von feinen Nuancen. Aber das schönste an der durchgängigen Doppelung von Schmerz und Lebensfreude ist, dass letztere schließlich obsiegt. Das lässt sich schon an den satten Farben, der sommerlichen Leichtigkeit und dem flirrenden Licht erahnen, in das der Regisseur seine Erinnerungen taucht.

Credits

OT: „L’immensità“
Land: Italien, Frankreich
Jahr: 2022
Regie: Emanuele Crialese
Drehbuch: Emanuele Crialese, Francesca Manieri, Vittorio Moroni
Musik: Rauelsson
Kamera: Gergely Pohárnok
Besetzung: Penélope Cruz, Luana Giuliani, Vincenzo Amato, Patrizio Francioni, Maria Chiara Goretti, Penelope Nieto Conti

Filmfeste

Venedig 2022
Sundance Film Festival 2023

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Author: The Hon. Margery Christiansen

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